Anders als Wien ist München nach dem 2. Weltkrieg flächen- und bevölkerungsmäßig geradezu explodiert. Während der Individualverkehr in der Wirtschaftswunderzeit ebenfalls gigantisch anstieg, hielt der Ausbau des öffentlichen Verkehrs zunächst nur beschränkt Schritt.
Ausbau der Trambahn
Die unmittelbare Nachkriegszeit war von zu wenigen, dafür aber überfüllten Straßenbahnen, welche die Hauptlast des ÖV trugen, geprägt - das bekannte Couplet "Ein Wagen von der Linie 8" des Münchner Humoristen Weiß Ferdl zeugt davon. Ende der 50er Jahre wurde dann das sogenannte "Tiefbahnkonzept" verabschiedet: Demzufolge sollte die Straßenbahn weiterhin Hauptverkehrsträger sein, jedoch in der Innenstadt in Ustrab-Tunnel verbannt werden, während an der Peripherie stadtbahnartige Strecken mit eigenem Gleiskörper geplant waren. Letztere wurden Anfang der 60er Jahre tatsächlich verwirklicht, so etwa nach Fürstenried West oder zum Hasenbergl (dem Münchner Pendant zur Wiener Großfeldsiedlung), während jedoch anders als in Wien keine Ustrab-Tunnel zu Ausführung gelangten. 1964 erreichte das Trambahnnetz mit 136 km seine größte Ausdehnung; dann ging es mit der Tram zunächst langsam, dann immer rascher bergab.
Der Grund dafür war der, daß München zum Austragungsort der Olympischen Sommerspiele 1972 auserkoren wurde. Schon Anfang der 60er Jahre kam man vom "Tiefbahnkonzept" ab und favorisierte nunmehr den Bau einer "echten" U-Bahn, also vorwiegend im Tunnel verlaufend, mit Stromschiene statt Oberleitung, breiteren Fahrzeugen und längeren Zügen.
Beginn des U-Bahn-Zeitalters
Dem Bau der ersten U-Bahn-Linie U6 fiel schon 1965 die erst drei(!) Jahre zuvor gebaute Straßenbahnverlängerung nach Freimann Nord zum Opfer. Dies war der erste Schlag gegen die Tram, dem noch weitere folgen sollten. Die Linie U6 (Nord-Süd-Achse) wurde 1971 eröffnet. In München galt ebenso wie in Wien das Dogma, daß Straßen-bahnen nicht parallel zu U-Bahnen verkehren dürfen. Während auf der Strecke der neuen U-Bahnen jeglicher Parallelverkehr eingestellt wurde, wurden im weiteren Umkreis von U-Bahnen verlaufende "parallele" Straßenbahnlinien großzügig auf Bus umgestellt. Vor Beginn des U-Bahn-Zeitalters war München anders als Wien sehr sparsam mit der Umstellung von Trambahnlinien auf Omnibus umgegangen. So wurden von 1960 bis 1971 nur fünf vorwiegend schwach frequentierte Linien umgestellt.
Einige Straßenbahnneubaustrecken, wie etwa 1973 nach Neuperlach, wurden zwar noch errichtet, jedoch von vornherein nur als U-Bahn-Vorlaufbetrieb konzipiert und nach wenigen Jahren wieder aufgelassen. Ein Vergleich mit der Wiener Linie 64 drängt sich in diesem Falle auf.
Gründung des Verkehrsverbundes
1972 wurde rechtzeitig zu den Olympischen Spielen der Münchner Verkehrsverbund MVV gegründet und zugleich der Grundstock des riesigen S-Bahn-Netzes in Betrieb genommen, welches vor allem im Regionalverkehr eine enorme Verbesserung der ÖV-Situation brachte. Die neuen S-Bahn-Linien wurden vorwiegend auf bereits bestehenden, neu ausgebauten und elektrifizierten Eisenbahnstrecken eingerichtet; neu gebaut wurde der Ost-West-Tunnel unter der Münchner Innenstadt zwischen Haupt- und Ostbahnhof. Dafür wurde aufgrund des Baubeginns bereits 1968 die Ost-West-Straßenbahnachse durch die Altstadt stillgelegt, auf welcher täglich mehr als 50.000 Fahrgäste befördert worden waren. Anders als in Wien wurden in München Straßenbahnstrecken nicht nur aufgrund von Bau und Eröffnung von U-Bahnen, sondern auch von Schnellbahnen aufgelassen.
1988 war das U-Bahn-Netz im städtischen Kernbereich bzw. auf den stark frequentierten Strecken fertiggestellt. Die Baulobby wollte jedoch verständlicherweise partout weiter bauen, so daß in weiterer Folge "Geister-U-Bahnen" mit einer Frequenz von weniger als 50.000 Fahrgästen täglich entstanden, so etwa nach Fürstenried West, Großhadern, Feldmoching und Laim; die jüngsten Verlängerungen der U1 zum Mangfallplatz und zum Westfriedhof weisen sogar weniger Fahrgäste als die Wiener U6 südlich von Alterlaa auf. Selbst in der Hauptverkehrszeit wird auf sämtlichen oben angeführten Münchner U-Bahn-Neubaustrecken nicht öfter als alle 10 Minuten gefahren - das Abendintervall beträgt 20 Minuten.
1993 war das einst so stolze Trambahnnetz auf einen Tiefststand von 63 km zusammengeschrumpft, wobei mit einer Ausnahme alle stadtbahnmäßigen Neubaustrecken der 60er Jahre wieder abgebaut worden waren.
Kampf um die Trambahn
Doch dann kam die "Wende". Schon in den 80er Jahren hatten sich Bürgerinitiativen vehement für die Erhaltung der Straßenbahn ausgesprochen. In weiterer Folge wurde die Tram zum politischen Zankapfel, wobei tendenziell die SPD meist für, die CSU jedoch gegen die Trambahn war. München ist anders als Wien durch ständig wechselnde Rathausmehrheiten geprägt, so daß der Kampf um die Tram in weiterer Folge von einem Wechselspiel der Siege und Niederlagen gekennzeichnet war. 1984 siegte bei den Kommunalwahlen die SPD; in der Folge wurde ein Wahlversprechen eingelöst und trat der einzigartige Fall der Wiederinbetriebnahme der 1983 stillgelegten Linie zum Lorettoplatz ein (diese Linie wurde jedoch 1993 endgültig wieder eingestellt und die Strecke teilweise abgetragen).
Sieg der Vernunft
1992 erfolgte der große Durchbruch. In einem einstimmigen Beschluß sprachen sich alle im Rathaus vertretenen Parteien für die Erhaltung und den Ausbau des Trambahnnetzes aus. Der Beschluß trug Früchte: 1995 wurde die Linie 20 als erste Trambahnlinie mit durchgehenden Vorrangschaltungen an den Lichtsignalanlagen ausgerüstet. Die dadurch erzielten Einsparungen an Fahrzeugen reichten allein aus, um den Wagenbedarf der wiedererrichteten und 1996 in Betrieb genommenen Straßenbahnlinie 17 zu decken. Diese Linie ist heute jene mit den meisten Fahrgästen, wobei auf dem Abschnitt im Bereich des Hauptbahnhofes vor der Neueröffnung überhaupt kein Oberflächenverkehrsmittel vorhanden gewesen war! 1997 wurde die Tram auf der 1968 aufgelassenen Strecke Ostfriedhof - Max-Weber-Platz wiedererrichtet und mit der Linie 25 feierlich in Betrieb genommen.
Weiters wurde der Wagenpark grundlegend modernisiert: Ab 1995 wurden etwa 70 dreiteilige von MAN (jetzt ADtranz) entwickelte Vollniederflurwagen geliefert, welche die Abstellung der bereits musealen dreiachsigen Großraumwagen Baujahr 1957 bis 1965 ermöglichte. Bei den Niederflurwagen handelt es sich um die ersten neuen Straßenbahnfahrzeuge seit 1969.
Neue Aufgaben für die Straßenbahn
Die Aufgaben der Trambahn gemäß dem aktuellen Verkehrskonzept gliedern sich wie folgt auf:
Konsequenterweise ist aufgrund der neuen Planungsmaximen der weitere Ausbau der Tram geplant, so etwa in Form einer West- und einer Nordtangente. Letztere soll durch den Englischen Garten, Münchens beliebtestes Naherholungsgebiet, führen. Obwohl die Tram die derzeit dort fahrenden umweltverpestenden Dieselbusse ersetzen soll und es kein vernünftiges Argument gegen eine Straßenbahn gibt, ist um die Nordtangente ein heftiger politischer Streit entbrannt, welcher auch zum Gegenstand des gegenwärtigen Kommunalwahlkampfes geworden ist.
Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die derzeitige Entwicklung des öffentlichen Verkehrs in München von einem maßvollen Ausbau der Schiene, vor allem der Tram, geprägt ist. Ob die gegenwärtige Renaissance der Straßenbahn weiter andauern wird, wird jedoch wesentlich vom Ausgang der Kommunalwahlen im Frühjahr 1999 abhängen; der Fortbestand ist jedoch auf längere Zeit gesichert.
Stadtwerke setzen auf die Tram
Daß der schrankenlose U-Bahn-Ausbau kein Allheilmittel darstellt, haben indessen auch die Stadtwerke erkannt. So bemerkte der stellvertretende Leiter des Werkbereichs Verkehr der Stadtwerke München in seinem Vortrag vor den Exkursionsteilnehmern am 20.11.1998 ausdrücklich, daß die Betriebskosten der peripheren U-Bahn-Linien das Defizit der Verkehrsbetriebe erhöhen, während vor allem die innerstädtischen Trambahnlinien, allen voran die neue Linie 17 einen Gewinn abwerfen. "Aber", so klagte er, "wenn uns die Stadt eine U-Bahn hinbaut, dann müssen wir sie leider auch betreiben, egal was uns das kostet!".
Ob die Wiener Linien auch zu derartig couragierten Aussagen zu bewegen wären?
Vorbild für Wien?
Nach derzeitigem Planungsstand ist Wien drauf und dran, das zu verwirklichen, was in München mittlerweile als Fehlplanung erkannt wurde. Schon jetzt hat Wien eine "Geister-U-Bahn" in Form der U6 nach Siebenhirten; weitere nach Leopoldau und Aspern, möglicherweise auch Rothneusiedl und Stammersdorf, sollen hinzukommen. Unter 50.000 Fahrgäste täglich weisen schon heute die U6 Süd und die Verlängerung der U3 nach Ottakring auf; nach aktuellen Prognosen werden auch die geplanten Erweiterungen mit Ausnahme des kurzen Abschnitts Kagran - Kagraner Platz der U1 Nord diese für einen wirtschaftlichen U-Bahn-Betrieb notwendige "magische Zahl" nicht überschreiten.
Was die U2 nach Aspern anbelangt, so würde die 50.000er-Marke nur dann überschritten werden, wenn durch die Wohnbautätigkeit eine Verdoppelung der derzeitigen Bevölkerungszahl im "transdanubischen" Einzugsbereich der U2 erreicht wird - dies ist jedoch bei Heranziehung des aktuellen Planungsstandes praktisch ausgeschlossen. Wie FAHRGAST schon in der Ausgabe 4/1997 herausgearbeitet hat, wäre für Aspern eine Schnellstraßenbahnlösung in puncto Flächenerschließung, Bau- und Betriebskosten wesentlich besser als die geplante U2-Verlängerung.
Der ohnedies sehr zaghafte Straßenbahnausbau ist in Wien praktisch zum Stillstand gekommen; die Pläne für die Verlängerung des 25ers nach Eßling sowie für den Bau der Linien 27 und 28 sind so gut wie ad acta gelegt. Im Gegenteil werden dem Ausbau der U1 und der U2 die Straßenbahnlinien 21 und 25 teilweise zum Opfer fallen.
Aber noch ist nicht aller Tage Abend. München kann hinsichtlich Renaissance der Straßenbahn als Vorbild gelten - was den uferlosen U-Bahn-Ausbau anbelangt, so sollte Wien aus den Münchner Fehlern lernen, bevor wieder zig Milliarden Schilling sinnlos in der Erde vergraben werden, welche im Oberflächenverkehr besser angelegt werden könnten.
Georg Kupf